Schmerzhafte Natürlichkeit

Jedes dritte Kind kommt in der Schweiz per Kaiserschnitt auf die Welt. Für die Gegner ist der Eingriff eine Belastung von Mutter, Kind und Gesundheitssystem.Beweisen lässt sich das allerdings nicht. Warum sollen Frauen noch gebären wie im Mittelalter? Von Nicole Althaus für die Weltwoche, Ausgabe 10/10

Die WHO schlug Ende Januar Alarm: In Asien sind die Kaiserschnittraten bis auf 50 Prozent gestiegen, und Schnittentbindungen bergen ein dreimal höheres Komplikationsrisiko für die Frauen als eine Spontangeburt. Zwar halten die Autoren im Medizinfachblatt Lancet fest, dass die Studienergebnisse nicht eins zu eins auf den Westen mit seinem wesentlich höheren medizinischen Standard zu übertragen seien, doch die Meinung der Medien war längst gemacht: «Kaiserschnitte sind nur bei medizinischer Indikation sinnvoll», untertitelte die NZZ am Sonntag ihren Beitrag zur Studie. Der österreichische Standard warnte: «Kaiserschnitt ist keine harmlose Option.»

Die Diskussionen um die weltweit steigenden Kaiserschnittraten haben ironischerweise sehr viel gemein mit den Wehen einer natürlichen Geburt: Sie kommen in regelmässigen Wellen, sind zermürbend, und sie laufen immer gleich ab: Kaiserschnittkandidatinnen wird vorgeworfen, genau wie Victoria Beckham «too posh to push» zu sein, zu fein zum Pressen. Die Hebammen bezichtigen Ärzte, Schnittentbindungen aus Bequemlichkeit und Geldgier unnötigerweise zu fördern. Und die Ärzte halten dagegen, dass die Mütter bei der Geburt immer älter seien und sich daher die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen erhöhe. Der einzige Fakt, über den man sich nicht streitet, ist die Statistik: Jedes dritte Kind kommt in der Schweiz heute per Schnitt auf die Welt.

«Wellness von Mutter und Kind»

Die Frage nach der «richtigen» Art zu gebären ist zum ideologischen Minenfeld verkommen. Mehr als hundert Artikel wurden im letzten Jahr in Schweizer Medien zum Thema publiziert. Neue Erkenntnisse sind daraus nicht hervorgegangen. Die Autoren holten bei Fachleuten die altbekannten Argumente ab und waren sich weitgehend einig: Der Zuwachs an Kaiserschnitten ist eine fragwürdige Lifestyle-Erscheinung, eine moderne Zivilisationskrankheit gar. Kein einziger Journalist wunderte sich, warum Lifestyle und Zivilisation überall begrüsst werden ausser im Kreisssaal. Niemand stellte den Ärzten und Hebammen die naheliegendste Frage: Warum sollen Frauen ausgerechnet im neuen Jahrtausend, in dem Schafe geklont und Babys im Reagenzglas gezeugt werden, wieder vermehrt gebären wie im Mittelalter?


Weil es für Mutter und Kind das Beste ist. Das wäre die einzige akzeptable Antwort. Der Schweizerische Hebammenverband ist sich dessen bewusst. In seinem Ende 2008 verfassten Positionspapier hält er fest: «Aufgrund der Forschungsresultate ist davon auszugehen, dass ein wesentlicher Teil der in der Schweiz durchgeführten Sectios Mutter und Kind gefährden.» Werden Frauen hierzulande also tatsächlich wider besseres Wissen und gegen ihren Willen zu Kaiserschnitten gezwungen?

«Gezwungen ist das falsche Wort», sagt Doris Güttinger, Hebamme und Geschäftsführerin des Verbandes. «Aber wir wissen aufgrund von Forschungsresultaten, dass die wenigsten Frauen, nämlich zwei Prozent, sich einen Kaiserschnitt wünschen. Also nehmen wir an, dass bei ihnen falsche Ängste geschürt werden und sie im Verlauf der Schwangerschaft Richtung Kaiserschnitt beeinflusst werden.» Nicht umsonst, erinnert sie, sei die Kaiserschnittrate in Privatkliniken und im urbanen Raum viel grösser als auf dem Land. Und fordert: «Jede Frau soll wählen können, wie sie ihr Kind auf die Welt bringt, aber sie soll im Vorfeld auch über die Risiken eines Kaiserschnitts aufgeklärt werden.»
«Dagegen», sagt Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Zürcher Universitätsspital, «habe ich nicht das Geringste einzuwenden, solange der Kaiserschnitt nicht verteufelt und die natürliche Geburt nicht beschönigt wird.» Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und fügt an: «Wenn die natürliche Geburt dem Kaiserschnitt so deutlich überlegen wäre, wie gern behauptet wird, würden wir heute kaum darüber streiten, wie Frauen zu gebären haben.» Fakt sei jedoch, dass sich in westlichen Industrienationen die Vor- und Nachteile beider Geburtsformen für Mutter und Kind etwa die Waage halten: «Kämpfte man vor hundert Jahren noch gegen die Mütter- und Kindersterblichkeit, so geht es in der modernen Geburtshilfe mehr und mehr um die Wellness von Mutter und Kind.» Spiritueller Eifer bei Natürlichkeit

Ein sachlicher Blick auf die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigt: Bei beiden Geburtsarten ist die Sterblichkeit ausgesprochen niedrig (0,002 Prozent bei Spontangeburten, 0,006 bei Kaiserschnitten, inklusive (!) Notfall-Sectiones). Der Kaiserschnitt schneidet etwas besser ab, was das Verletzungsrisiko des Neugeborenen betrifft. Knochenbrüche und beeinträchtigte Nervenstränge sind bei Vaginalgeburten häufiger. Dafür kämpfen vorab Wunschkaiserschnitt-Babys häufiger mit Atemproblemen. Gleich gut schneiden die Geburtsformen bezüglich der Langzeitfolgen für die Frau ab. Mit einer Ausnahme, wie Zimmermann betont: «Bevor ich ein schweres Kind mit der Zange herausziehe und den Beckenboden der Frau womöglich so verletze, dass ihre Kontinenz und Sexualität beeinträchtigt werden, führe ich lieber einen Kaiserschnitt durch.»


Medizinisch gesehen, würde der Kampf um die «bessere» Gebärform demnach mit einem Unentschieden enden, weshalb er auf Nebenschauplätze verlagert worden ist. Zum Beispiel auf das in allen Mutterbelangen geradezu mit spirituellem Eifer besetzte Feld der Natürlichkeit. Seit die Emanzipation in den späten siebziger Jahren die Gebärenden aus den Händen der «seelenlos-sterilen» (Spiegel, 1980) männlichen Geburtsmedizin befreit hat, müssen Frauen nicht nur ein Kind auf die Welt pressen, sondern sich dabei auch noch «stark» und «selbstbewusst» fühlen, ja sich bewusst sein, der künftigen «Menschheit damit die Möglichkeit zu schenken, neu geboren zu werden» (Ingeborg Stadelmann: «Die Hebammen-Sprechstunde», 2005).
Duftkerzen und bunte Kissen

Unter Aufgebot sämtlicher Entspannungstechniken, welche die Naturheilkunde zu bieten hat, und sämtlicher Gebär-Accessoires, die man bei Naturvölkern entdeckt hat, wurde der Kreisssaal in den letzten zwanzig Jahren zur Gebärlandschaft umgebaut. Zu einer pastelligen Welt, in der man der Naturgewalt einer Geburt mit Duftkerzen, Wanne, Strick, Sprossenwand und vielen bunten Kissen begegnet.


Der vorläufige Höhepunkt der Ökogeburts-Propaganda ist der Dokumentarfilm «Orgasmic Birth», der letztes Jahr um die Welt ging: Darin behauptet die amerikanische Geburtshelferin Debra Pascali-Bonaro, dass Wehen orgiastische Gefühle auslösen können. Ja, Sie haben richtig gelesen: Pressen gehört jetzt auch ins «Kamasutra». Die Beweislast der weiblichen Gebärpotenz, das nur nebenbei, liegt selbstverständlich nie bei den einschlägigen Buchautorinnen oder Filmerinnen, sondern stets bei der Probandin: Wähnt sich die Frau unter der Geburt statt im Himmel in der Hölle, hat sie eben die Wehen nicht richtig begrüsst.

Die Aufklärung nämlich, die hat den Kreisssaal nicht erreicht. Obwohl sie von allen Seiten gefordert wird. Eine 2008 publizierte britische Studie der Universität Newcastle wirft den Geburtsvorbereitungsprogrammen vor, die Schwangeren zu wenig von der «romantischen Vorstellung einer sanften Geburt» abzubringen. In der Folge wollten viele Frauen schmerzmittellos gebären, ohne sich jedoch auf die körperlichen Qualen einzustellen, die sie im Kreisssaal erwarteten. Enttäuschung bis hin zu Traumatisierung sind die Folgen.

Wer selber einmal schwanger war, weiss warum: In der einschlägigen Literatur und in vielen Geburtsvorbereitungskursen wird die Schwangere zwar im Detail über die Funktion von Mayahocker und Pezzi-Bällen aufgeklärt, aber nicht über die Folter, die sie darauf erwartet. Der Geburtsschmerz wird noch immer gern mit den Worten «konstruktiv» und «gut» bagatellisiert. Und bis heute hält sich die Ideologie, dass nur eine Frau, die sich dem Schmerz stellt, eine gute Mutter wird: «Eine Epiduralanästhesie schmälert das Bonding zwischen Mutter und Kind», kritisierte Denis Walsh, Professor für Geburtshilfe an der britischen Nottingham-Universität, den Trend zur schmerzfreien Geburt im Juli 2009. «Der Geburtsschmerz wird von den Müttern heute negativ statt positiv besetzt.» Den intellektuellen Gehalt dieser Aussage erkennt, wer sie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt anwendet. Gut nur, dass wenigstens etymologisch das Geschehen im Kreisssaal nicht schöngeredet werden kann: Das Wort stammt nämlich vom gleichlautenden mittelhochdeutschen Wort «Kreissen» ab, was so viel hiess wie «gellend schreien».

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die feministische Natürlichkeitsfraktion die Frauen zwar erfolgreich aus der männlich dominierten Geburtshilfe befreit, dafür aber dem biblischen Eva-Fluch unterworfen hat: Unter Schmerzen sollst du gebären! Was früher Last war, wird heute zur Lust, ja nachgerade zur mütterlichen Pflicht hochstilisiert. Galt es früher einfach eine Geburt zu überleben, so gilt es heute an diesem Event zu wachsen.

Gleichzeitig wird der Geburtsstreit auch auf dem pekuniären Nebenschauplatz angezettelt und damit zum Politikum erhoben. Gleich zwei parlamentarische Vorstösse verlangten letztes Jahr vom Bundesrat Massnahmen gegen die wachsende Kaiserschnittrate. Die Genfer SP-Parlamentarierin und Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbandes, Liliane Maury Pasquier, forderte vor gut einem Jahr in einer Motion, den Gründen für das Sectio-Wachstum nachzugehen. Im vergangenen Juli verlangte Marcel Scherer, SVP-Nationalrat aus dem Kanton Zug, medizinisch unbegründete Kaiserschnitte aus der Grundversicherung zu streichen. Als Reaktion darauf hat das Bundesamt für Gesundheit laut Projektleiterin Miranda Dokkum eine Pilotstudie in Auftrag gegeben und behält sich finanzielle Massnahmen zur Reduktion von Wunschkaiserschnitten vor.

Für einmal ziehen also alle am selben Strick. Was an sich schon hellhörig machen sollte. Denn wenn letztlich die Kosten entscheiden sollen, wie Frauen zu gebären haben, dann müsste man erst richtig betriebswirtschaftlich rechnen: «Die grössten Kosteneinsparungen in einer Geburtsabteilung erhalte ich, wenn theoretisch alle Frauen per Kaiserschnitt entbinden», sagt Professor Zimmermann ketzerisch. Dann nämlich kann das OP- und Anästhesiepersonal, das Tag und Nacht auf Pikett ist, deutlich reduziert werden. Kaiserschnitte sind planbar und fallen nicht nachts oder am Wochenende an wie Spontangeburten. Zimmermann will das nicht als Votum gegen die natürliche Geburt verstanden haben. Er gibt nur zu bedenken, dass diese lediglich daher billiger sei, weil es das heutige Tarifsystem nicht zulasse, dass die Betriebskosten verursachergerecht auf die Geburtsart überwälzt werden. Die natürliche Geburt wird also quersubventioniert. Das sollte wissen, wer via Portemonnaie Gebärpolitik betreiben will.

Nicole Althaus ist Journalistin und Autorin des «Mamablogs».
Illustration: Kat Menschik

Kommentare

Es bereitet einen übrigens auch niemand darauf vor, dass es auch Notfallkaiserschnitte gibt. Und keiner sagt einem, dass man trotz Kaiserschnitt eine gute Mutter ist. Ähnlich wie beim Stillen, überwacht die Gesellschaft uns Mütter und gibt den Tarif durch.

Wieso soll eigentlich Betreuung und Erziehung Privatsache sein, nicht aber Geburt und Ernährung?
Mittelmaßmama hat gesagt…
Von meinem Zahnarzt darf ich mir zwar Botox-Unterspritzungen, von meinen Gynäkologen aber keinen Kaiserschnitt machen lassen. Getreu dem Motto: Wenn sie schon nichts mehr im Gesicht spüren kann, dann doch wenigstens noch etwas am Arsch, bzw. gleich daneben?

Vielleicht damit das Kreissen mich und alle drum herum daran erinnert, dass wir Menschen und keine faltenlosen Plastikpuppen sind? Damit hätte die Diskussion um den Kaiserschnitt immerhin eine neue gesellschaftspolitische Nuance erreicht. Wenn schon der Fakt keine Bedeutung findet, dass Gott sei Dank heute kaum noch eine Frau mit Ankunft der Brut ihr eigenes Leben aushaucht; und sie sich nachher auch noch an ihrer Brut freuen kann. Und ich dummes Schaf dachte eigentlich immer, genau darauf kommt es an.
flower_eg hat gesagt…
Here in England, society judges you and I am sick and tired of it. Breast feeding is great IF you can do it and only then. Many women experience difficulties breast feeding and should not be made to feel ashamed or guilty of that. The same goes with giving birth. If you want to have painkillers during birth, go ahead and have them, if you want to chant to whale music, do it and if you need a C-Section, have one because the most important fact is that you and your baby are healthy. That is ALL that counts! Don't let society get you down!

Beliebte Posts